ADHS und Autismus: Verständnis und Unterschiede

Autismus und ADHS scheinen eine gemeinsame, neurologische Basis zu haben.
Deswegen zeigen viele ADHS-Betroffene unspezifische Autismusmerkmale, wie beispielsweise eine hohe Empfindlichkeit für Reize.

Je nach Studienlage leiden bis zu 43 % der autistischen Menschen zusätzlich an ADHS. Beide Störungsbilder haben bei oberflächlicher Betrachtung Überschneidungen. Allem voran die hohe Ablenkbarkeit und Irritierbarkeit. Autismus-Betroffene haben oftmals Probleme sich zu konzentrieren, da Außenreize wie helle Lichter, laute Geräusche und Ähnliches nicht ausgeblendet werden können und übermäßig intensiv und intrusiv erlebt werden. Hieraus resultiert insbesondere in lauten Umgebungen wie Universitäten oder Schulklassen eine deutlich verminderte Konzentration. Bei ADHS-Betroffenen ist die Konzentration unabhängig von der Außenumgebung eingeschränkt. Zumal beide Störungsbilder gemeinsam auftreten und auch bei ADHS mitunter Einschränkungen infolge autistischer Merkmale bestehen, ohne dass das vollständige Bild einer Autismusspektrum-Störung gegeben ist, lohnt es sich auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu schauen. Optimalerweise sollte in jeder Diagnostik auf eines der beiden Störungsbilder wenigstens ein validiertes Screening in Bezug auf das Vorliegen des jeweils anderen durchgeführt werden.

Gründe für eine saubere Differenzialdiagnostik

  • Bei Vorliegen der Autismusdiagnose kann es trotz gelingender Bewältigung des Alltages sinnvoll sein, einen Grad der Behinderung zu beantragen, da etwa ein Nachteilsausgleich auf der Arbeitsstelle den sogenannten autistischen Burnout verhindern kann. Dabei handelt es sich um ein moderneres Wort für eine Erschöpfungsdepression infolge andauernder Überlastung.
  • Bei Vorliegen von Autismus sollte in der aktuellen Lebensführung entlang der Wender-Utah-Kriterien aus der ADHS Diagnostik die subjektive Belastung gemessen werden. Bei gleichzeitigem Vorliegen von ADHS, ist mit vergleichsweise einfachen Mitteln eine deutliche Verbesserung der Lebensqualität möglich.
  • Die Differenzialdiagnostik berührt neben den rechtlichen und pharmakotherapeutischen Fragestellungen vor allem das Vorgehen in begleitenden Pharmakotherapien.

Für die Differenzialdiagnostik sind naheliegenderweise nicht die Gemeinsamkeiten, sondern die Unterschiede der beiden Störungsbilder entscheidend

Um die Diagnose Autismus stellen zu können, müssen entlang des diagnostischen Manuals DSM-IV fünf und ICD 11 folgende Symptomkriterien der sogenannten autistischen Triade erfüllt sein. Ist dies nicht gegeben, ist die Diagnose Autismus formal nicht zulässig. Dieser Umstand lässt leider außer Acht, dass insbesondere bei weiblichen Betroffenen eine gut gelingende soziale Anpassung und lebensgeschichtlich erworbene Kompetenzen diese Probleme überdecken können. Diese Personen, die gelernt haben, autistische Merkmale zu kompensieren, erkranken dann überdurchschnittlich häufig psychisch, da ihnen durch die eigenen Bewältigungsfähigkeiten eine Diagnose und die ihnen zustehenden Hilfsmittel oder Nachteilsausgleiche verwehrt bleiben.

Autistische Triade

Qualitative Beeinträchtigung der wechselseitigen sozialen Interaktion (mindestens in zwei Bereichen)

  • Beeinträchtigung bei Blickkontakt, Mimik, Körperhaltung und Gestik zur Regulation sozialer Interaktionen
  • Unfähig altersgemäße Beziehungen zu Gleichaltrigen aufzunehmen
  • Mangel an sozio-emotionaler Gegenseitigkeit
  • Mangel, spontan Freude, Interessen oder Tätigkeiten mit anderen zu teilen
  • Qualitative Beeinträchtigung der Kommunikation (mindestens in einem Bereich)
  • Entwicklungsstörung der gesprochenen Sprache ohne Kompensation durch Gestik oder Mimik
  • Relative Unfähigkeit, eine Konversation zu beginnen oder aufrechtzuerhalten
  • Stereotype und repetitive oder eigentümliche Verwendung der Sprache
  • Mangel an spontanen Als-ob-Spiele bzw. sozialen Interaktionsspielen

Stereotypes Repertoire von Interessen und Aktivitäten (mindestens in einem Bereich)

  • – Intensive Beschäftigung mit stereotypen und begrenzten Interessen
  • – Spezifische, nicht funktionale Handlungen oder Rituale, Stereotype und repetitive motorische Manierismen
  • – Durchgängige Beschäftigung mit Teilobjekten oder nicht funktionalen Elementen von Gegenständen

Zusätzlich: Auffällige Entwicklung von frühester Kindheit an.

Unterschiede zwischen ADHS und Autismus

Vordergründig ist ein entscheidendes Kriterium die Tiefe der Gedanken, bzw. die Denkgeschwindigkeit. (Auch hier gilt, immer stimmt nie!)

Vorwiegend autistische Menschen neigen dazu, alles deutlich detailreicher zu durchdenken. In Gesprächen führt dies dazu, dass Antworten oftmals langsamer als bei anderen Menschen gegeben werden, da nahezu jede Information des Gespräches gleich wichtig ist und genau durchdacht werden muss.

Menschen mit ADHS zeichnen sich oft durch eine sogenannte assoziative Lockerung aus. Dabei handelt es sich um einen fortwährenden Gedankenstrom, ewig weiterziehende Gedankenketten, wenn etwa Wörter einen ähnlichen Klang haben sowie fortwährende innere Abgelenktheit durch neue Ideen und eigene Gedanken.

ADHS Betroffene können genauso wie Autisten sehr intensiv ihren Hobbys oder Spezialinteressen nachgehen. Bei Autismus bleibt das Thema des Spezialinteresses jedoch über Jahrzehnte stabil, wohingegen ADHS-Betroffene, nach dem sie das Thema durchdrungen haben, schnell Langeweile entwickeln und sich ein neues Hobby oder eine andere Tätigkeit oder einen anderen Beruf aufnehmen.

Bei reinem Autismus sind zudem die Nebenkriterien von ADHS, welche sich in den Wender Utah Kriterien beschrieben finden, nicht erfüllt. Hierbei insbesondere die schnellen Stimmungswechsel zwischen hypomanen Erleben und depressiven Einbrüchen, der kurze und anlassbezogene Ärger (ausgenommen Meltdowns), die grundsätzliche Desorganisation -im autistischen Leben geht es ihr eher überorganisiert zu – auch die Impulsivitätsmerkmale von ADHS treffen aus Autisten nicht zu. Zu unterscheiden ist an dieser Stelle, dass bei der ADHS-typischen Impulsivität auch die Neigung, andere zu unterbrechen oder deren Sätze zu Ende zu führen, mitberücksichtigt ist. An dieser Stelle muss unterschieden werden, dass Autisten auch oftmals dazu neigen, andere zu unterbrechen, da die sozialen Signale schwerer verstehen, wann sie mit Sprechen dran sind.

Eine wirkliche Borderlinediagnose schließt das Vorliegen von Autismus in der Praxis aus, da der Kern des Borderlinesyndroms in der Angst vor dem Verlassenwerden liegen und Borderline-Patient*innen hervorragend darin sind, neue Beziehungen zu initiieren und sich innerhalb dieser manipulativ zu verhalten. Zugrunde liegt eine veränderte Art der Beziehungswahrnehmung über die sogenannten primitiven Abwehrmechanismen wie Spaltung und Projektion. Insbesondere letzteres besagt, dem Gegenüber bestimmte Absichten zu unterstellen. Manipulatives Verhalten, Angst vor dem Verlassenwerden und die dauernde Beschäftigung mit den (vermeintlichen) Motiven des Gegenübers sind genau das, was autistische Menschen nicht tun.

Umso erstaunlicher ist es, dass mir in meiner Praxis regelmäßig autistische Menschen begegnen, die oft monatelang auf Borderlinestationen behandelt wurden. Hier wurde infolge schlampiger Diagnostik nur die offensichtlichen Verhaltensmerkmale wie ggf. selbstverletzendes Verhalten, das auch bei Autismus vorkommt, aggressives Ausagieren bei Meltdowns und das Vorliegen von kurzfristigen, psychotischen Symptomen bei Hochstress zur Diagnosestellung einer Persönlichkeitsstörung herangezogen.

Pharmakotherapie bei Doppeldiagnosen

Disclaimer: Dieser Text basiert auf eigenen Erfahrungen aus Behandlungen und intensivem Austausch mit Kolleg*innen. Er ersetzt keine Diagnosestellung und individuelle Verordnung durch Fachärzt*innen.

Autistische Menschen reagieren oftmals deutlich empfindlicher auf Medikamente. Entsprechend ist es sinnvoll bei einer vorliegenden ADHS Diagnose die Eindosierung langsam und mit geringen Steigerungen der Dosis (z. B. 2,5 mg MPH sofort wirksam) vorzunehmen. Bei vermehrtem Auftreten von aggressivem Ausagieren bei wie zum Beispiel bei in Meltdown-Situationen zeigen noradrenergen Substanzen gegebenenfalls ergänzend zur Stimulanzientherapie eine gute Wirksamkeit und mitunter eine verbesserte „soziale Smoothness“.

Abhängig von der Lebensführung und der individuellen Ausprägung kann folgende Überlegung bei der Planung einer Pharmakotherapie Berücksichtigung finden:

Eine medikamentöse Einstellung auf ein dauerhaft wirksames Medikament, dass ein Spiegel aufbaut (Atomoxetin oder Elontril) kann eine Reduktion der ADHS Symptomatik unabhängig vom Einnahmezeitpunkt schaffen. So kann etwa der Anteil der verminderten Konzentration, der über ADHS erklärbar ist, abgesenkt und mitunter ein höheres Funktionsniveau im Alltag erzielt werden. Zu bedenken ist an dieser Stelle, dass Elontril als Monotherapie bei ADHS insbesondere im Bereich der Konzentration eher unterdurchschnittliche Ergebnisse erzielt, die stimmungsstabilisierende Wirkung aber mitunter gute Effekte zeigt. Folglich sollte eine Behandlung mit Elontril keine leitliniengerechte Stimulanzienbehandlung ersetzen. Atomoxetin hat im Vergleich zur Stimulanzientherapie deutlich mehr Nebenwirkungen (anticholinerge Effekte). Beide Medikamente können jedoch zur wird Verbesserung (Augmentation) einer regulären Stimulanzientherapie auch in niedrigen Dosen zusätzlich eingenommen werden und sind dann oft verträglicher, als wenn sie zu Monotherapie genutzt werden.