Biologische Grundlagen der ADHS

Noradrenalin und Dopamin – Warum Stress ADHSler beruhigt und Entspannungsübungen nicht funktionieren.

Um die Auswirkungen der Biologie auf den Therapieprozess zu verstehen, ist es notwendig, zu wissen, auf welcher Ebene das Problem entsteht. Die verfügbaren Medikamente erhöhen entweder den Dopaminspiegel oder den Noradrenalinspiegel. Aber was bedeutet das eigentlich für die Therapie?

Im weiteren Verlauf dieses Textes gehe ich im Bereich der Werteorientierung vertieft auf dieses Thema ein.


Dopamin steuert unsere Motivation, ist für die Bedeutungszuweisung – also das Erkennen von Zusammenhängen wichtig und ist Teil unseres Belohnungszentrums. Zuwenig Dopamin, heißt: Zusammenhänge werden nicht erkannt. Es liegt eine verminderte Motivation vor, Dinge zu beginnen (Aufschieberitis) und es stellt sich kein Zufriedenheitsgefühl ein. Deutlich zu viel Dopamin lässt uns Zusammenhänge erkennen, wo keine sind: Angela Merkel hat Falten am Hals, also ist sie in Wirklichkeit ein Echsenmensch. Bei zu viel Dopamin wird der Mensch wahnhaft und erleidet einen Realitätsverlust. Das nennt sich dann Psychose. Biologisch ist ADHS gewissermaßen das Gegenteil einer Psychose. Deswegen bekommen Patient*innen mit ADHS Medikamente, die den Dopaminspiegel erhöhen (meist Stimulanzien) und Psychotiker Medikamente, die den Dopaminspiegel senken (Neuroleptika).

 Noradrenalin
Ein zweiter Botenstoff der eine wichtige Rolle spielt, ist Noradrenalin. Noradrenalin ist nicht nur ein „Stresshormon“ sondern spielt auch eine Rolle als Botenstoff, der den Abbau von Dopamin hemmt. Das bedeutet: Wenn ADHSler richtig Stress haben, können sie sich konzentrieren. Vorher nicht. Also benötigen Betroffene Stress, um sich ausgeglichen zu fühlen. Die spiegelt sich oft in stressiger Berufswahl: Rettungssanitäter, Manager, Pflegekräfte, Werbebranche, Gastronomie und Küche, Polizei, Streitkräfte und investigativer Journalismus.
Dies ist auch der Grund, warum so gut wie alle ADHSler schneller als der Durchschnitt auf Autobahnen unterwegs sind. Bei Tempo 80 ist die Konzentration nicht vorhanden**. Ab 160 km/h ist die Anspannung und die Notwendigkeit schnell reagieren zu können stark genug, um für eine gute Konzentration zu sorgen.

Die Folge für die Lebensführung bei ADHS ist, dass Betroffene ihren Dopaminspiegel (und die damit einhergehende Fähigkeit sich zu konzentrieren oder Dinge zu beginnen) oftmals über eine Erhöhung des Noradrenalinspiegel stabilisieren. Einfach gesagt, benötigen ADHSler Stress, um sich ausgeglichen zu fühlen und sich zentrieren zu können.

Dies erklärt, warum ADHS Betroffene regelmäßig über ihre eigenen Belastungsgrenzen gehen und nicht aufhören können, einer Tätigkeit nachzugehen, bis absolute körperliche Erschöpfung einsetzt (Überarbeitung, exzessiver Sport oder das Anzetteln diverser Projekte, die parallel laufen). Dies führt-vor allem mit zunehmendem Lebensalter und dem Beginn körperlicher Einschränkungen-zu Erschöpfungszuständen und Depressionen. Sobald die depressive Symptomatik sich jedoch ein wenig stabilisiert, wird die Schleife von vorn los und die innere Ausgeglichenheit wird durch Selbstüberforderung erzeugt. Umgangssprachlich könnte man sagen, dass ADHSler so lange rennen, bis der Akku alle ist und sobald das Display wieder einen Balken Energie zeigt, erneut lossprinten. Bei Kompensation durch gute Bildung oder frühe Förderung gelingt es, Betroffenen dann häufig in einzelnen Gebieten überdurchschnittliche Leistungen zu erzielen. Grund dafür ist erneut eine hohe Dopaminausschüttung. Das Einarbeiten in einen neuen Bereich stimuliert bei intrinsischer Motivation das Belohnungszentrum. Die Folge ist ein häufiger Wechsel von Berufen oder Hobbys. Ab dem Moment, wo die Tätigkeit beherrscht wird, erzeugt sie Langeweile und es wird ein neues Aufgabenfeld gesucht. Dies erklärt zum Teil die von Betroffenen als quälend erlebte Frage nach eigenen Präferenzen und Lebenszielen.

Auch bei einer guten medikamentösen Einstellung bleibt das Muster in Zügen erhalten. Hesslinger, Phillipsen et al. (2004) benennen in ihrem Manual zur Psychotherapie bei ADHS, dass man entsprechende Patienten im klinischen Setting bereits daran erkennt, dass die Entspannungsgruppen hassen. Unabhängig vom verwendeten Psychotherapieverfahren sollten Therapeut*innen also bedenken, dass es gegebenenfalls eher um eine Work-Work-Balance als um eine Work-Life-Balance geht.



*Diese Erklärung ist ein wenig zu einfach. Wenn man ADHS-Betroffenen L-Dopamin – also eine Vorstufe von Dopamin gibt, die man bei Parkinsonerkrankten einsetzt, ändert sich nichts, außer, dass den Betroffenen übel und schwindelig wird. Dennoch bewirkt eine Stimulation des Dopaminrezeptors über andere Substanzen eine deutliche Verbesserung der ADHS-Symptomatik. Die korrekte Antwort auf die Frage was ADHS ist, müsste also lauten: Keine Ahnung, aber man kann es einigermaßen gut therapieren.

** Die Frage „Fahren Sie schneller als der Durchschnitt?“ ist eine diagnostische Frage des amerikanischen Psychologen Thomas E. Brown. Brown hat 10 Fragen herausgearbeitet, die von den meisten ADHS-Betroffenen mit Ja beantwortet werden.