Für Patient*innen biete ich regelmäßige Infoveranstaltungen an, um sich zu entscheiden. Für Ärzt*innen und Psychotherapeut*innen gibt es akkreditierte Fortbildungen. Wichtig: Ich stehe in keiner wirtschaftlichen Beziehung oder Abhängigkeit zu Herstellern von Medikamenten oder anderen kommerziellen Anbietern. Folglich bestehen keine Interessenskonflikte.
Wenn eine Pharmakotherapie sinnvoll ist, stehen im Wesentlichen zwei Stoffgruppen zur Verfügung. Stimulanzien – hierzu zählen Methylphenidat (Ritalin, Medikinet und Andere) und Amphetamin (Elvanse und Attentin) sowie Noradrenalinwiederaufnahmehemmer wie Atomoxetin (Strattera und Off Label das Antidepressivum Venlafaxin).
Was macht das Medikament im Gehirn und im Körper
Stimulanzien wie Ritalin und Co heben den zu niedrigen Dopaminspiegel auf das normale Level. Noradrenalinwiederaufnahmehemmer sorgen für mehr verfügbares Dopamin, indem sie den Abbau hemmen. Je nachdem wo die Hauptprobleme liegen können die Medikamente ausgewählt werden. Dopaminerg wirksame Medikamente wirken am besten auf die Aufmerksamkeit und in zweiter Linie auf Stimmungsstabilität. Noradrenerge Medikamente wirken in erster Linie auf die Stimmungsstabilität und Impulsivität und in zweiter Linie auf die Konzentration, haben aber im Durchschnitt mehr Nebenwirkungen (anticholinerge Effekte). Allen Substanzen ist gemein, dass sie eine anregende Wirkung haben, d.h. die Herzrate erhöhen. Das klingt im ersten Augenblick erst einmal bedenklich. Die Erhöhung ist in der Regel aber nicht stärker als bei normalem Kaffeekonsum. Überdies sollte vor Beginn der Medikation ein Langzeit-EKG geschrieben werden, um Herz-Kreislaufprobleme auszuschließen.
Nicht alle psychiatrischen Praxen erheben diese Parameter im Vorwege. Wer selber sichergehen möchte, kann beim Hausarzt vor Beginn einer Pharmakotherapie folgende Werte erheben lassen:
- 1. Aktuelle Laborwerte: Blutbild, Natrium, Kalium, Leberwerte, Nierenwerte, TSH
- 2. Aktuellen EKG-Befund mit Beurteilung der QTc-Zeit
- 3. Liste mit somatischen Medikamenten und Vorerkrankungen
Die Pharmakotherapie von ADHS ist absolut logisch aufgebaut. Es handelt sich um ein Baukastenprinzip und es gilt immer zu bewerten, an welcher Stelle die größten Probleme bestehen und welche der (ggf. unterschiedlichen Diagnosen) im Vordergrund steht. Die Systematik füllt in etwa drei Stunden und ist leicht verständlich. Einzige Voraussetzung: Die Bereitschaft, sich mit den Wirkmechanismen und der technischen Beschaffenheit gängiger Präparate auseinanderzusetzen. Im Folgenden gebe ich kurze Übersicht Überblick über die gängigsten Präparate und deren Vor- und Nachteile.
Medikinet Adult
Medikinet Adult ist das meistverschriebene Medikament bei ADHS im Erwachsenenalter. Das bedeutet nicht, dass es das Beste ist, sondern vielmehr, dass der Hersteller Medice entscheidend an der Finanzierung der Studien für die Zulassung von Stimulanzientherapie im Erwachsenenalter mitgewirkt hat. Die Idee hinter dem Produkt ist gut: Es soll über den Tag verteilt wirken. Dazu werden zwei einzelne Dosen des Wirkstoffes Methylphenidat in einer Kapsel verabreicht. In vielen Fällen funktioniert das zufriedenstellend. Außer Acht gelassen ist allerdings, dass die Länge der Wirkung jeder einzelnen Dosis individuell unterschiedlich ist. Bei einigen Menschen hält die Wirkung bis zu 6 Stunden an, bei anderen nur 1,5 Stunden. Bei der Mehrzahl der Menschen wirkt die Einzeldosis ca. 2,5 bis 3 Stunden. Aus diesem Grund kommt es bei Medikinet Adult deutlich häufiger als bei allen anderen Präparaten zu Reboundeffekten.
Was ist ein Reboundeffekt und wie macht er sich bemerkbar? Ab dem Moment, wo der Wirkstoff Methylphenidat im Gehirn zu Ende verstoffwechselt ist, kommt es bei Medikinet zu einem rapiden Abfall des Botenstoffes Dopamin. Die äußert sich oftmals in plötzlich einsetzender Müdigkeit, Schwitzen, Heißhunger, Getriebenheit oder starkem Bewegungsdrang. Der Reboundeffekt hält für ca. 30 Minuten an. Dann normalisiert sich der Dopaminspiegel erneut. Reboundeffekte sind bei richtiger medikamentöser Einstellung weitestgehend vermeidbar.
Probleme am Konzept:
Da beide Einzeldosen mit derselben Tablette eingenommen werden, ist der Zeitpunkt des Wirkeintritt der zweiten Dosis nicht kontrollierbar. Es kommt entsprechend häufig zu einer „Lücke in der Wirkung“. D.h, die erste Dosis hört auf zu wirken, während die zweite noch nicht begonnen hat. Das nennt sich Reboundeffekt. Bei sehr langer Wirkdauer kann es auch passieren, dass beide Dosen für eine kurze Zeit gleichzeitig wirken. Dann kommt es zu einer leichten Überdosierung. Ein weiterer Nachteil ist, dass eine Medikation ohne Frühstück nicht möglich ist und zum Vermeiden des Reboundeffektes die Einnahme einer zweiten Dosis auf 10 Minuten genau getimed werden muss.
Standardfehler in der psychiatrischen Praxis:
Etwa ein Drittel der Psychiater*innen vergessen meiner Erfahrung nach darauf hinzuweisen, dass vor der Einnahme von Medikinet gefrühstückt werden muss. Ist das wichtig? Ja – und zwar essenziell. Wenn nicht gefrühstückt wird, gehen beide Einzeldosen Methylphenidat gleichzeitig los. Die erste Dosis soll im Magen aufgenommen werden. Die Zweite im Darm. Wenn im Magen allerdings keine Nahrung ist, rutscht der gesamte Inhalt der Tablette bis in den Darm und wird sofort verstoffwechselt. Sie starten also mit 100 % mehr als gedacht und haben nur halb so lange Wirkung + heftigste Reboundphänomene.
Gängige Lösung des Problems:
Viele Psychiater verordnen eine zweite Medikinet Dosis in niedrigerer Dosis zusätzlich. Diese soll später eingenommen werden, um innerhalb der Reboundlücke zu wirken. Das Konzept funktioniert hinreichend gut. Hinreichend deswegen, weil die später eingenommene Tablette natürlich im selben Zeitschema erneut kleinere Reboundeffekte erzielt. Außerdem überlagern die Verlaufskurven der einzelnen Präparate sich in vielen Fällen. Zwar kommt es meistens nicht mehr zu starken Reboundeffekten, allerdings schwankt die verfügbare Dosis um einige Milligramm um die eigentlich benötigte Dosis herum. Das bedeutet, dass sich das Innenerleben mitunter stündlich ändert.
Bessere Lösung des Problems:
Das Problem ist eigentlich leicht zu lösen. Anstelle einer zweiten, niedrigeren Dosis nach einigen Stunden, empfiehlt es sich, die doppelte Menge an Tabletten in halber Dosierung zu verordnen und diese z. B. mit einem Abstand von 15 bis 30 Minuten zeitversetzt einzunehmen. So wird der durch die Bauweise der Tablette entstehende Rebound weitestgehend aufgehoben.
Beispiel: Anstatt 20 mg Medikinet können 2 Tabletten mit 10 mg Medikinet im Abstand von 15 bis 30 Minuten eingenommen werden.
Anstelle von Medikinet kann zulasten der Krankenkasse Ritalin Adult verordnet werden. Milligrammzahl und Wirkprofil sind exakt gleich. Allerdings besteht das Problem mit den Mahlzeiten nicht, da Ritalin unabhängig vom Frühstück eingenommen werden kann.
Concerta, Kinecteen und Co
Seit Juli 2022 ist zusätzlich das Präparat Concerta und seit Ende 2023 das Präparat Kinecteen zugelassen. Die Kosten für die Behandlung werden also von der Krankenkasse übernommen. Die meisten Praxen haben das aber bisher nicht mitbekommen. Der Wirkstoff ist der gleiche wie bei Medikinet. Das Präparat wird aber deutlich besser vertragen, da die typischen Probleme mit dem Rebound nicht bestehen. Der Grund dafür ist auch hier die Aufbereitung der Tablette. Concerta hat 20 % des Wirkstoffes auf der äußeren Hülle aufgebracht. Die restlichen 80 % werden über den Tag verteilt nach und nach freigesetzt. Hierbei kommt das sogenannte OROS-Prinzip zur Anwendung. Der Begriff bedeutet „osmotic controlled release“.
Aber was heißt das jetzt? Der Tablettenkorpus von Concerta hat ein kleines Loch und der Wirkstoff Methylphenidat wird aus diesem Loch herausgespült, bis nichts mehr übrig ist. Das funktioniert, weil im Magen und im Darm immer Pumpbewegungen passieren und Flüssigkeiten bewegt werden. Somit kommt es zu keinem plötzlichen oder intensiven Wirkabfall wie bei Medikinet oder Ritalin.
Andere Hersteller nutzen dieselbe Dosierungsgröße und Milligrammzahl sowie die „20%- zu 80%-Aufteilung“ des Wirkstoffes. Die Freisetzung, Wirkdauer und das subjektive Erleben der Wirkung unterscheidet sich jedoch stark. Ggf. lohnt es sich zwischen den Präparaten zu wechseln. „Concertakopien“ gibt es unter den Handelsnamen MPH-Neuraxpharm, Kinecteen und von Ratiopharm, Hexal und anderen. Hierbei handelt es sich um verpresstes Methylphenidat. Kinecteen setzt auf die gleiche Art und Weise frei. Hier ist das MPH in einer aufquellenden Gelschicht gebunden, die verzögert aufgelöst wird. Das Ergebnis ist das identisch.
Elvanse
Elvanse ist ein Medikament, das seit 2019 zur Behandlung von ADHS im Erwachsenenalter zugelassen ist und seit sowohl auf das dopaminerge, als auch das noradrenerge System wirkt. Gemeinhin wird Elvanse als de Methylphenidatpräparate vertragen. Der Wirkstoff ist Lisdexamfetamin. Chemisch handelt es sich um ein Amphetamin, das mit einer Lysin-Aminosäure kombiniert, die dafür soft, dass der Stoff in die Blutbahn aufgenommen wird. Dadurch wird das Amphetamin in die Blutbahn aufgenommen und ist so lange im Körper wirksam, bis es verstoffwechselt ist. Der Mechanismus ist also ähnlich wie bei Alkohol. Der Vorteil gegenüber vielen Methylphenidatpräparaten ist, dass es in der Regel keinen Reboundeffekt hervorruft. Der Nachteil ist, dass es in höheren Dosierungen öfter zu Schlafstörungen kommt. Das liegt daran, dass durch die Aufnahme im Blut, die Höhe der Dosis über die Dauer der Wirksamkeit entscheidet. Je höher die Dosis, desto länger die Wirkung.
Strattera/Atomoxetin
Seit 2013 ist das Präparat Strattera mit dem Wirkstoff Atomoxetin zur Behandlung von ADHS im Erwachsenenalter zugelassen. Anders als die vorangegangenen Medikamente fällt es nicht unter das Betäubungsmittelgesetz. Strattera erhöht die Verfügbarkeit von Noradrenalin. Dadurch wird im Gehirn der Abbau von Dopamin gehemmt. Die Wirkung auf die ADHS-Symptomatik ist gut, allerdings erzeugt das Medikament deutlich mehr Nebenwirkungen als Methylphenidat oder Amphetamine. Hier sind vorrangig die anticholinergen Effekte zu nennen. Trotzdem hat Strattera einen wichtigen Platz in der Pharmakotherapie der ADHS. Patient’*innen, die in der Vergangenheit an psychotischen Symptomen gelitten haben, dürfen nicht mit Medikinet oder Amphetamin behandelt werden. Für diese Gruppe ist Strattera eine wertvolle Alternative zu Medikinet und Co.
Mit der folgenden Tabelle kann ein Wechsel zwischen Präparaten in der Regel problemlos vorgenommen werden.
Wirksame Einzeldosis unretardiert | Medikinet Retard/Adult | Ritalin Adult/LA | Methysym | Concerta | MPH Neuraxpharm, Hexal, Ratiopharm | Elvanse/Elvanse Adult |
5 mg | 10 mg | 10 | 10 mg | 18 mg | 18 mg | 10 mg |
7,5 mg | 15 mg | 20 mg | 27 mg | 27 mg | 20 mg | |
10 mg | 20 mg | 20 mg | 30 mg | 36 mg | 36 mg | 30 mg |
12,5 mg | 25 mg | 40 mg | 45 mg | 40 mg | ||
15 mg | 30 mg | 30 mg | 50 mg | 54 mg | 54 mg | 50 mg |
17,5 mg | 35 mg | 60 mg | 63 mg | 60 mg | ||
20 mg | 40 mg | 40 mg | 70 mg | 72 mg | 72 mg | 70 mg |